Vom Kirchenchor zum Neuwieder Konzertchor: Entwicklung der musikalischen Gruppen an der Marktkirche

Der Beginn 1884

Seit dem Bestehen der Marktkirche erklingt in ihr Chorgesang. Die Kantorei ist also genau so alt wie die Gemeinde. Zwar versteht man im engeren Sinne unter dem Begriff „Kantorei“ den klassischen Kirchenchor – und nur den gab es bereits vor 125 Jahren; aber eigentlich bilden alle Gesangsgruppen einer Gemeinde zusammen die Sängerschaft, d.h. die Kantorei (lat. cantare = singen). Was vor 125 Jahren als Kirchenchor begann, ist inzwischen zu einem breiten „Gesangsfächer“ für alle Alters- und Leistungsgruppen geworden. Darum soll im folgenden nicht nur die Entwicklung des Kirchenchores, sondern der gesamten Kantorei, d.h. aller Gruppen, dargestellt werden. Die Arbeit der Kantorei im engeren Sinne (i.e. des Kirchenchores) und des daraus resultierenden Neuwieder Konzertchores wird allerdings ausführlicher geschildert.


Ein Jubiläum ist immer damit verbunden, dankbar auf das Erreichte zurückzublicken. Und das dürfen wir auch. Zwar heißt es: „Wer seine Hand an den Pflug legt und schaut zurück, der ist nicht geschickt zum Reiche Gottes“ (Luk. 9, 62). Gemeint ist hier aber ein Blick zurück, der einen am Weitergehen, an der Nachfolge hindert. Ein Zurückschauen, das gleichzeitig ein Zurückbleiben bedeutet, ist das, was Jesus ablehnt. Das Jubiläum der Kantorei soll aber keine Nabelschau sein, kein Ausruhen auf eigenen Lorbeeren. Es ist kein Ziel, bei dem man endlich angekommen ist, sondern nur ein Meilenstein auf dem Weg.


Die folgende Darstellung der Kantoreiarbeit an der Marktkirche Neuwied geschieht nicht als Rückblick auf 125 Jahre, sondern nur als Fortschreibung der Entwicklung der vergangenen 25 Jahre. Sie beginnt also nach der letzten Dokumentation zum hundertjährigen Jubiläum.

Nach hundert Jahren: Grundsteine 1985-1992 ...

In den vergangenen 25 Jahren versah mein geschätzter Vorgänger KMD Günter Gruschwitz bis Ende 1992 das Amt als Kantor an der Marktkirche. Er führte in dieser Zeit fort, was er bereits viel früher begonnen hatte:

  • Die Konzertreihe „Sommerliche Orgelkonzerte“ mit jährlich sechs bis acht Konzerten meist hiesiger Künstler. Aber auch renommierte auswärtige Organisten wie Martin Haselböck, Gisbert Schneider oder Ludger Lohmann gastierten in der Marktkirche.

  • In regelmäßigen Karfreitagsmusiken erklangen u.a. die Johannes-Passion von Heinrich Schütz, Werke von Buxtehude oder Bachs „Kreuzstabkantate“. Kantatengottesdienste mit Bachkantaten oder eigenen Werken von Günter Gruschwitz waren besondere Akzente im gottesdienstlichen Leben der Gemeinde.

  • Auch große Chorkonzerte fanden statt. Die „Chorgemeinschaft Neuwied“ (heute: Neuwieder Konzertchor) sang in dieser Zeit „Der Messias“ (Händel), „Ein Deutsches Requiem“ (Brahms) und mehrfach das „Weihnachtsoratorium“ (Bach). Einen besonderen Abschluss fand die segensreiche Amtszeit von KMD Günter Gruschwitz mit der Aufführung von Johann Sebastian Bachs „Messe h-Moll“.

  • Neben der Kantorei bereicherten auch der Kinderchor und der Posaunenchor das musikalische Gemeindeleben.

 

Dieses Erbe fand ich vor, als ich mit meiner Familie nach Neuwied kam. Für mich war es eine Verpflichtung, auf diesem Niveau aufzubauen, dabei aber auch neue Akzente zu setzen.



... und Weiterentwicklung nach 1993

 Zu Beginn des Jahres 1993 trat ich das Amt des Kantors an der Marktkirche und des Kreiskantors des Kirchenkreises Wied an. Es gab die oben erwähnten gut eingeführten Kreise und Veranstaltungsreihen, an die ich anknüpfen konnte. Ich konnte aber auch Neues aufbauen. Schnell nahmen die Kantorei, der Kinderchor und der Posaunenchor ihre Probenarbeit wieder auf. Zeitweilig gab es auch einen Blockflötenkreis einiger junger Mädchen. Im Dezember 1993 führte die Kantorei die Teile I bis III von Bachs „Weihnachtsoratorium“ auf.

Aber der Reihe nach:

Kinderchor „Crescendo“


Zunächst galt es, aus einer kleinen Schar von acht Kindern eine größere singfreudige Gruppe zu machen. Ich lud in den Grundschulen und auch im gemeindeeigenen Kindergarten zum Kinderchor ein. Dort entstand dann sogar ein eigener Singkreis, der aber bald unter eigener Leitung weiterarbeitete. Langsam, aber stetig wuchs die Gruppe. Sie wurde schließlich so groß, dass man sie in zwei Altersgruppen teilen musste. Immer deutlicher stellte sich heraus, dass die Aufführung von Kindermusicals sehr zur Attraktivität des Chores beitrug. So führte der Kinderchor viele Musicals über biblische Geschichten auf, z.B. „Daniel in der Löwengrube“, „Jona und die schöne Stadt Ninive“, „Belsazars Festmahl“, „Philippus und der Kämmerer“, „Johannes der Täufer“ und viele andere. Die Kinder lieben es, sich zu verkleiden und in Rollen zu schlüpfen. Bei vielen Ausstattungsfragen war uns übrigens in allen Jahren die Requisite des Schlosstheaters Neuwied eine große Hilfe. Dort konnten wir Kostüme ausleihen, sogar Kulissen stellte man für uns her. Ein ganz besonderes Erlebnis war die Aufführung des Musicals „Ritter Rost und das Gespenst“. Es handelte sich hierbei um ein ökumenisches Gemeinschaftsprojekt mit dem katholischen Kinderchor Waldbreitbach (Leitung: Peter Uhl). Außerdem machten ausgefallene Kostüme, großartige Kulissen und eine richtige Band den Erfolg dieser Aufführung in der ausverkauften Aula des Werner-Heisenberg-Gymnasiums aus.

 

Der Kinderchor „Crescendo“ singt meist in Familiengottesdiensten oder im jährlichen Tauferinnerungsgottesdienst, an Erntedank und natürlich in der Adventszeit im Altenheim der Marktkirche. Auftritte außerhalb der Marktkirche fanden z.B. bei Vernissagen in der Städtischen Galerie „Mennonitenkirche“ statt, bei Stadtkirchentagen oder Vereinsweihnachtsfeiern oder beim städtischen Konzert des Neuwieder Konzertchores im Heimathaus (Carl Orff: Carmina Burana, im Jahr 2000). Wochenendfreizeiten im Nitztal oder Ausflüge zu den Kinderchortagen des Chorverbandes der Evangelischen Kirche im Rheinland rundeten das Angebot ab.

 

 

 

Übrigens: Die Bezeichnung „Crescendo“ (sprich: kreschändo) ist italienisch. In der Sprache der Musik bedeutet es „Lauter werden“. Steht in einer Partitur an einer Stelle das Crescendo-Zeichen, so soll man hier zunächst leise singen (oder spielen) und dann die Lautstärke steigern. Die ursprüngliche Bedeutung des lateinischen „crescere“ ist „wachsen, entstehen“. So hat die Bezeichnung „Crescendo“ für den Kinderchor eine doppelte Bedeutung: erstens die musikalische Bedeutung im Sinne von „lauter werden“ und zweitens die Bedeutung des Wachsens der Kinder.

 

 

 

Sieben Jahren nach seiner Gründung war der Kinderchor derart gewachsen, dass man aus den mittlerweile zwei Gruppen sogar eine dritte bilden konnte. Sie sollte aber ein eigenes Profil bekommen. So entstand der Jugendchor „Vivace“.

 

Jugendchor „Vivace“

 
Der Jugendchor „Vivace“ ging 2001 aus dem Kinderchor „Crescendo“ hervor und entwickelt seitdem sein eigenes Programm. Musicals (z.B. „Take to Flight“ – eine moderne Jona-Geschichte von Gunnar Schlimme, oder „Swinging Samson“ von Michael Hurd) und Gospelmessen (Ralf Grössler, Johannes M. Michel) mit Solisten und Band prägen seitdem den Stil von „Vivace“ (ital. = lebhaft). Die stilistische Bandbreite der kirchenmusikalischen Arbeit an der Marktkirche wird durch den Jugendchor erheblich erweitert, der in den vergangenen Jahren zudem auch bei Konzerten mitwirkte. Das geschieht in Zusammenarbeit mit dem Ensemble „Cappella Vocale“ und dem „Neuwieder Konzertchor“ – so beim „Magnificat“ von John Rutter im Jahr 2008 und 2009 bei Joseph Haydns „Die Schöpfung“. Und in einem Jazzkonzert unter dem Titel „Swinging Christmas“ sang der Jugendchor Ende 2008 mit der Shama-Abbas-Band.

 

Kammerchor „Cappella Vocale“

 

Inzwischen entstand noch ein ganz anderer Chor an der Marktkirche. Seit 1997 kommen ambitionierte Chorsängerinnen und -sänger als Kammerchor „Cappella Vocale Neuwied“ zusammen, um selten gesungene Chormusik einzustudieren und in Gottesdiensten oder Konzerten aufzuführen. Dabei ist der Chor auf keine Stilrichtung festgelegt, sondern sucht gerade in einer großen Bandbreite den besonderen Reiz.

Das erste Konzertprogramm, mit dem der Chor an die Öffentlichkeit ging, war eine Zusammenstellung aus „Vaterunser“-Vertonungen aus neun Jahrhunderten. In den folgenden Jahren wurde der Wirkungsbereich etwas erweitert. So sang der Chor in Koblenz, Bad Neuenahr, Euskirchen und Waldbröl. Dabei erklangen Werke von Fanny Hensel, Charles Ives, Aaron Copland, Wolfgang Stockmeier, Bobby McFerrin - zunehmend aber auch Kompositionen von romantischen und modernen „Klassikern“ wie Maurice Duruflé, Heinrich Kaminski, John Rutter und Bob Chilcott. Konzertprogramme standen unter dem Motto „Gott segne und behüte dich – europäische Segenslieder aus Romantik und Moderne“ oder „Weicht, ihr Trauergeister“ (mit der Bach-Motette „Jesu, meine Freude“). Bei Probenwochenenden im Hunsrück oder auf der Ebernburg in Bad Münster am Stein bereitete man sich in besonderem Maße auf die Konzerte vor.

Das Singen in Gottesdiensten bildet nicht den Schwerpunkt dieses Chores. Trotzdem gestaltete er mehrfach die Gottesdienste in der Marktkirche und sang z.B. in einigen Auszeit-Gottesdiensten.

Kantorei

 

Durch die kirchenmusikalische Erneuerungsbewegung im 20. Jahrhundert wurde die Bezeichnung „Kantorei“ für evangelische Kirchenchöre populär. Der Begriff bezeichnet also im engeren Sinn den Kirchenchor der Erwachsenen – auch wenn im umfassenden Sinn alle singenden Kreise einer Gemeinde gemeint sind. Als der Berichterstatter die Leitung der Kantorei 1993 übernahm, bestand sie aus lediglich 15 Mitgliedern. Viele bisherige Chorsänger hatten altersbedingt und gleichzeitig mit dem Ausscheiden von KMD Günter Gruschwitz mit dem chorischen Singen aufgehört. Das ist ein normaler Vorgang; dennoch: Damals war Aufbauarbeit angesagt. Schnell wuchs die Kantorei auf einen Mitgliederstamm von 25 Personen an. Und so konnte der Chor bereits an Ostern 1993 erstmals den Gottesdienst mitgestalten.



Singen im Gottesdienst ...

Oberste Aufgabe der Kantorei ist das Singen im Gottesdienst. Durchschnittlich singt sie dort einmal im Monat. Das geschieht meist an bestimmten Feiertagen (Karfreitag, Ostern, Advent, Weihnachten), an besonderen Sonntagen (Cantate, Ewigkeitssonntag) oder bei Festgottesdiensten (z.B. Amtseinführungen, Goldene Konfirmation) – und zwar sowohl a cappella, als auch mit Orgelbegleitung oder kleinem Orchester und Solisten. Den Gottesdienst an Cantate 2001 gestaltete die Kantorei übrigens mit Obertongesang.

 

... und Konzert

Kleinere Konzerte, die die Kantorei alleine ausführte, waren in den letzten Jahren die Gedenkkonzerte zum 100. Geburtsjahr Jochen Kleppers (2003) und Dietrich Bonhoeffers (2006).

 

Proben

Um sich auf diese Dienste vorzubereiten, trifft sich die Kantorei wöchentlich zur Probe, die meist 90 Minuten dauert, phasenweise aber auch manchmal zwei Stunden. Ganze Probentage (samstags, 10 bis 17 Uhr) kommen bei Bedarf hinzu. Auch jährliche Stimmbildungsseminare tragen dazu bei, den Chorklang zu verbessern.

 

Geselligkeit

 Die Geselligkeit kommt nicht zu kurz. Sie ist das „Schmiermittel“, damit es im Chor auch zwischenmenschlich „rund läuft“. Und ein gutes Klima dient wiederum der Musik. An dieser Stelle sei auf die ausführlichen Erläuterungen in dem Artikel „Singen im Chor macht Freu(n)de“ verwiesen.